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Dry Needling und Faszien beim Pferd - Ein Einblick in Wissenschaft und Praxis
Ein Beitrag von Franziska Kolbeck | EquiSissi
Während Dry Needling gezielt myofasziale Triggerpunkte behandelt und durch mechanische sowie neurophysiologische Effekte Muskelverspannungen reguliert, ermöglicht die Faszientherapie ein Lösen von Verklebungen und eine Verbesserung der Gewebegleitfähigkeit. In Kombination ergeben sich wirkungsvolle Ansätze, um Bewegungseinschränkungen, Taktunreinheiten oder muskuläre Verspannungen zu behandeln. Der Artikel verbindet aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse mit praktischen Erfahrungen und zeigt, wie diese Techniken Pferden zu mehr Losgelassenheit, Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden verhelfen können.
Immer häufiger begegnen uns Pferde in der Praxis mit myofaszialen Problemen: verspannte Muskulatur, Bewegungseinschränkungen, Taktfehler oder diffuse Schmerzsymptomatiken. Viele dieser Symptome sind nicht rein muskular oder rein gelenkbezogen, sondern im Zusammenspiel von Muskulatur, Bindegewebe und nervaler Steuerung zu sehen. Hier kommen moderne Therapieansätze wie die Faszientherapie und das Dry Needling ins Spiel. Beide Methoden haben in der Humanphysiotherapie längst einen festen Stellenwert - und finden zunehmend auch in der Pferdetherapie Beachtung.
Ziel dieses Artikels ist es, Grundlagen und Wirkweisen von Faszientherapie und Dry Needling beim Pferd vorzustellen, Verbindungen zwischen beiden Methoden aufzuzeigen und anhand praktischer Erfahrungen zu verdeutlichen, wie sie im Alltag eingesetzt werden können. Dabei möchte ich sowohl wissenschaftliche Hintergründe beleuchten, als auch praxisnahe Anwendungsfelder beschreiben.
Faszien in der Pferdetherapie - mehr als nur Bindegewebe
Faszien sind längst nicht mehr das „weiße Gewebe“, das in Anatomiebüchern nur als Hüllstruktur beschrieben wird. Heute wissen wir, dass Faszien ein hochaktives, sensorisches und mechanisches Netzwerk bilden, das den gesamten Körper durchzieht. Sie sind an Kraftübertragung, Bewegungssteuerung, Propriozeption und auch an Schmerzprozessen beteiligt.
Studien im Humanbereich zeigen, dass fasziale Restriktionen zu Schmerzen, Bewegungseinschränkungen und kompensatorischen Fehlbelastungen führen können. Übertragen auf das Pferd bedeutet dies: Schon kleinste Verklebungen oder Spannungen innerhalb der Faszien können zu deutlichen Veränderungen im Bewegungsablauf führen - sei es eine Einschränkung in der Schulterfreiheit, Probleme in der Stellung, Biegung und/oder Versammlung oder eine diffuse Rückenempfindlichkeit.
Gerade Pferde, die im Sport oder in der Freizeit hohen Belastungen ausgesetzt sind, profitieren von einer gezielten faszialen Behandlung. Hier setzen Methoden wie manuelle Faszientherapie, aber auch Dry Needling an.
Dry Needling - Definition und Abgrenzung
Dry Needling ist eine invasive physiotherapeutische Technik, bei der dünne Einmalnadeln gezielt in myofasziale Triggerpunkte eingebracht werden. Ziel ist es, eine lokale Muskelentspannung, eine Verbesserung der Durchblutung sowie eine Normalisierung neuro-muskulärer Dysfunktionen zu erreichen. Wichtig ist die klare Abgrenzung zur Akupunktur: Während diese auf einem energetischen Konzept der TCM beruht und bestimmte Meridiane adressiert, basiert Dry Needling auf westlich-medizinischem Wissen über Muskeln, Faszien und Nerven. Es geht nicht um Energiefluss, sondern um neurophysiologische und mechanische Effekte im Gewebe.
Beim Pferd können wir durch gezieltes Dry Needling verspannter oder überlasteter Muskulatur häufig eine unmittelbare Verbesserung der Beweglichkeit und Losgelassenheit beobachten. Besonders interessant ist hierbei die Verbindung von Dry Needling und Faszientherapie, da beide Ansätze das myofasziale Netzwerk adressieren.
Dry Needling und Faszien - ein Zusammenspiel
Dry Needling und Faszientherapie greifen beide in das gleiche System ein: das myofasziale Netzwerk. Faszien umhüllen und verbinden alle Muskeln, Organe und Strukturen des Körpers. Triggerpunkte - also lokal übererregbare Punkte in der Muskulatur - entstehen häufig dort, wo Muskelfasern dauerhaft angespannt sind oder fasziale Verklemmungen die Gleitfähigkeit behindern.
Durch das Setzen einer Nadel in diese Triggerpunkte lösen wir nicht nur einen lokalen „Twitch“ aus, sondern auch eine neurophysiologische Kaskade: Schmerzreize werden herunterreguliert, Durchblutung und Stoffwechsel gefördert und das fasziale Gewebe kann sich neu organisieren. In Kombination mit manueller Faszienarbeit ergibt sich somit ein ganzheitlicher Therapieansatz, der die Spannungsmuster im gesamten Bewegungsapparat beeinflusst.
Wirkmechanismen - was passiert im Gewebe?
Die aktuellen Erkenntnisse aus der Humanmedizin lassen sich gut auf die Pferdetherapie übertragen. Drei Wirkebenen sind besonders relevant:
- Mechanische Effekte - Die Nadel stört die lokale Kontraktion im Triggerpunkt, löst Verklemmungen und stimuliert die Faszien mechanisch.
- Neurophysiologische Effekte - Über eine kurzfristige Reizung der Schmerzrezeptoren kommt es zu einer Regulation im Rückenmark und im zentralen Nervensystem. Das Schmerzempfinden kann reduziert werden.
- Durchblutung und Stoffwechsel - Das „Anpicksen“ des Gewebes führt zu einer verbesserten Mikrozirkulation. Abbauprodukte können abtransportiert und Sauerstoff sowie Nährstoffe wieder besser ins Gewebe eingeschleust werden.
Gerade im Pferdesport, wo hohe Anforderungen an Muskelkraft, Elastizität und Losgelassenheit gestellt werden, sind diese Effekte spürbar: Pferde bewegen sich freier, zeigen weniger Abwehrreaktionen und lassen sich besser gymnastizieren.
Praxisrelevanz beim Pferd
In meiner Arbeit mit Dry Needling beim Pferd setze ich die Methode vor allem in folgenden Bereichen ein:
- Rückenprobleme und Sattelbereich - Häufig zeigen Pferde Verspannungen im langen Rückenmuskel (M. Longissimus dorsi) oder den Glutealmuskeln. Oft schon unmittelbar nach der Behandlung, können die Pferde ihren Rücken deutlich freier aufwölben und weisen eine erweiterte Schrittlänge auf.
- Hals- und Schulterbereich - Verklebungen oder Triggerpunkte in diesem Bereich schränken unter anderem die Schulterfreiheit, die Stellung und die Biegung ein. Durch das Dry Needling lässt sich die Beweglichkeit deutlich verbessern.
- Leistungsabfall oder Taktunreinheiten - Wenn kein orthopädischer Befund vorliegt, steckt häufig ein myofasziales Problem dahinter, das sich durch Dry Needling und ergänzende Faszientherapie lösen lässt.
Besonders wichtig ist mir die Kombination: Nach meiner manuellen Behandlung, welche die Faszientherapie beinhaltet, wende ich zum Schluss das Dry Needling an, um die neu gewonnene Beweglichkeit im Gewebe noch mehr zu verbessern und zu stabilisieren. Zudem bekommt der Pferdebesitzer aktive Übungen und einen gezielten Trainingsplan, damit das Pferd die veränderte Körperwahrnehmung auch verinnerlichen und festigen kann.
Grenzen und Sicherheit
So wirkungsvoll das Dry Needling auch ist, so wichtig ist auch ein verantwortungsvoller Umgang. Nicht jedes Pferd eignet sich für die Behandlung, und nicht jeder Triggerpunkt darf genadelt werden. Kontraindikationen sind unter anderem akute Infektionen, offene Wunden oder bestimmte neurologische Erkrankungen.
Auch der Umgang mit dem Pferd selbst spielt eine große Rolle: Dry Needling kann, je nach Punkt, kurz „unangenehm“ sein. Daher ist ein ruhiges Handling, die richtige Technik und eine gute Einschätzung des Pferdecharakters unerlässlich. Für mich steht die Sicherheit von Pferd und Therapeutin sowie Besitzer an oberster Stelle.
Darüber hinaus ersetzt Dry Needling keine tierärztliche Diagnostik. Vielmehr sehe ich es als wertvolle Ergänzung im interdisziplinären Zusammenspiel von Tierärzten, Physio- und Osteotherapeuten, Trainern und Besitzern. Durch das Dry Needling können viele Krankheiten bzw. Verletzungen vorgebeugt werden (Prävention); allerdings werde ich, sofern es eine Indikation dafür gibt, den Rat geben, gewisse Befunde tierärztlich abklären zu lassen. Nur durch ehrliche und professionelle Zusammenarbeit aller Parteien kann den Pferden bestmöglich und effektiv geholfen werden.
Ausblick und Fazit
Dry Needling und Faszientherapie eröffnen uns in der Pferdephysiotherapie spannende Möglichkeiten. Beide Methoden sind wissenschaftlich fundiert, praxisnah und lassen sich individuell kombinieren.
Für mich ist die Arbeit mit dem myofaszialen System ein Schlüssel, um Pferde nachhaltig und langfristig gesünder, leistungsfähiger und zufriedener zu machen.
Besonders wertvoll ist die direkte Rückmeldung der Pferde: Sie zeigen uns sehr schnell, ob eine Behandlung Erleichterung bringt. Dieses unmittelbare Feedback, ganz ohne „Placebo-Effekt“, motiviert mich immer wieder die Behandlung so aufzubauen, dass ich nicht nur Symptome behandle, sondern den Ursprung finde und diesen zielgerichtet und effektiv behandle.
Checkliste - Wann ist Dry Needling sinnvoll?
- Rückenprobleme - das Pferd zeigt Empfindlichkeiten beim Putzen oder Satteln, fällt im Rücken weg oder kann den Rücken schlecht aufwölben.
- Taktunreinheiten - insbesondere wenn keine orthopädischen Befunde vorliegen, aber eine myofasziale Ursache vermutet wird.
- Bewegungseinschränkungen - verminderte Schulterfreiheit, eingeschränkte Biegung oder fehlende Lastaufnahme der Hinterhand.
- Diffuse Schmerzen oder Verspannungen - keine klar lokalisierbaren Probleme, aber ein „unrundes“ Bewegungsbild oder Abwehrreaktionen.
- Leistungsabfall - das Pferd wirkt müde. Läuft unter seinen Möglichkeiten, obwohl Training und Haltung unverändert sind.
- Kompensationen - auffällige Asymmetrien in der Muskulatur, Schonhaltungen oder einseitige Belastungen.
- Nach intensiver Belastung - zur Regeneration bei Sportpferden, wenn Muskelverspannungen den Bewegungsfluss stören.
Enzymatische Parallelen zwischen Triggerpunkten und Rigor mortis („Totenstarre“)
Ein immer wieder diskutierter Aspekt in der Forschung zu myofaszialen Triggerpunkten ist die biochemische Ähnlichkeit zu Vorgängen, die man aus der „Totenstarre“ (Rigor mortis) kennt. Bei Rigor mortis ist der entscheidende Mechanismus der fortschreitende Verlust von ATP, wodurch Myosin nicht mehr von Aktin gelöst werden kann und eine anhaltende Muskelsteife entsteht. Studien zur Biochemie aktiver Triggerpunkte fanden ebenfalls Hinweise auf ein gestörtes Energiemetabolismus-Muster (z. B. niedriger pH-Wert, erhöhte Konzentration an bestimmten Substanzen) sowie Hinweise auf mitochondriale Funktionsstörungen, die die ATP-Verfügbarkeit lokal reduzieren könnten. Diese Befunde erklären, warum Triggerpunkte als „taut bands“ mit anhaltender Kontraktion beschrieben werden und weisen auf eine funktionelle Parallele zur ATP-abhängigen Steifheit bei Rigor mortis hin. Allerdings gilt: Es existiert bisher keine direkte, eindeutige Studie, die zeigt, dass in Triggerpunkten genau dasselbe einzelne Enzym oder exakt dieselbe biochemische Kaskade wie bei der Totenstarre wirksam ist; die Situationen unterscheiden sich grundlegend. Deshalb sind die Vergleiche nützlich als Hypothese und Denkmodell, aber noch nicht als gesicherte Tatsache - weiterer experimenteller Nachweis wäre erforderlich.
Über Franziska Kolbeck
Schon früh hat mich die Faszination für Bewegung und die komplexen Zusammenhänge des muskuloskelettalen Systems begleitet. Meine fundierte physiotherapeutische Ausbildung im Humanbereich legte das Fundament für mein heutiges therapeutisches Arbeiten. In dieser Zeit konnte ich nicht nur theoretisches Wissen, sondern auch praktische Erfahrungen in der Anwendung physiotherapeutischer Techniken und Maßnahmen sammeln.
Aufbauend darauf, habe ich meine Ausbildung zur Pferdephysiotherapeutin am Deutschen Institut für Pferdeosteopathie (DIPO) absolviert und erfolgreich abgeschlossen.
Im Anschluss folgte die Spezialisierung im Bereich Dry Needling am Centrum für Dry Needling (CFDN) unter Andrea Schachinger.
Durch die Kombination aus human- und pferdephysiotherapeutischem Wissen sowie der Spezialisierung zur Dry-Needling-Expertin, ist mir eine ganzheitliche Betrachtung und Behandlung Ihres Pferdes möglich.
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Autorin: Franziska Kolbeck | EquiSissi, Bilder: Franziska Kolbeck
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