Muskuläre Elektrostimulation (EMS): Sinnvolle Ergänzung oder überbewerteter Trend?

Die Gesundheit und Leistungsfähigkeit eines Pferdes stehen für Reiter, Besitzer und Trainer an oberster Stelle. Neben dem richtigen Management, das Haltung, Fütterung sowie Bewegung und Training umfasst, gewinnen ergänzende Therapieformen zunehmend an Bedeutung. Verfahren wie Aquatraining oder muskuläre Elektrostimulation (EMS) haben sich in den letzten Jahren als wertvolle Ergänzungen im Rehabilitationsprozess, Leistungssport und zur Muskelregeneration etabliert.
Doch was genau verbirgt sich hinter dieser Methode? Ist sie tatsächlich eine sinnvolle Ergänzung im Training und der Rehabilitation von Pferden oder lediglich ein überbewerteter Trend?
Was ist EMS-Training?
Elektrotherapien sind in der Rehabilitation von Pferden weit verbreitet (Atalaia et al., 2021). EMS ist eine spezielle Form des Trainings, bei der elektrische Impulse gezielt auf Muskeln und Nerven angewendet werden, um kontrollierte Muskelkontraktionen hervorzurufen, die eine Trainingseinheit simulieren sollen (Nussbaum et al., 2017). Im Pferdesport wird EMS eingesetzt, um die Beweglichkeit der Gelenke zu verbessern, Funktionseinschränkungen zu reduzieren, Ödeme zu verringern, die Durchblutung zu fördern und den Muskelabbau zu minimieren. Zudem kann es die Muskelkraft erhöhen, den unwillkürlichen Kontrollverlust verzögern und das sensorische Bewusstsein des Pferdes fördern und dadurch die so genannte “muscle memory” erzeugen (Kirar et al., 2023). Dadurch eignet sich EMS als ergänzende Therapieform insbesondere für den Muskelaufbau und die Rehabilitation.
Wie funktioniert EMS-Training?
Die Muskeln eines Pferdes werden durch Nervenimpulse gesteuert, die vom Gehirn über das Rückenmark zu den peripheren Nerven und schließlich zu den Muskelfasern gelangen (McNeal & Reswick, 1976). Jeder periphere Nerv enthält motorische Neuronen, die diese Signale weiterleiten, sowie sensorische Neuronen, die Informationen an das zentrale Nervensystem zurückmelden. Diese Nervenimpulse können künstlich durch elektrischen Strom ausgelöst werden, wodurch es zu kurzen Muskelkontraktionen kommt, die typischerweise etwa 100 Millisekunden andauern (McNeal & Reswick, 1976). Die Stimulation motorischer Neuronen kann auch sensorische Neuronen aktivieren, was reflexartige Muskelbewegungen oder sensorische Reaktionen auslösen kann (McNeal & Reswick, 1976).
Diese künstlich erzeugten Impulse imitieren die natürlichen Signale des Gehirns und sorgen dafür, dass die Muskeln gezielt kontrahieren. Dabei dringen die elektrischen Impulse tiefer in die Muskulatur ein als bei herkömmlichem Training. Die Kontraktion der Muskeln erfolgt durch externe Stimulation, beispielsweise mittels des EQUERY-Anzugs (siehe Bild 1).
Ablauf des EMS-Trainings
Das EMS-Training sollte in den ersten Sitzungen ausschließlich unter Anleitung oder Aufsicht erfahrener Fachleute und in einer kontrollierten Umgebung, wie der Box oder Stallgasse, durchgeführt werden. Da diese Art des Trainings für Pferde neu ist, kann es anfangs ein ungewohntes Körpergefühl hervorrufen. Muskelgruppen werden kontrahiert, ohne dass das Pferd sich aktiv bewegt, was zunächst irritierend sein kann.
Das Training erfolgt über einen speziell entwickelten EMS-Anzug von EQUERY. Dieser ist mit sechs Elektroden ausgestattet (siehe Bild 2), die gezielt auf folgende Muskelgruppen einwirken: M. Brachialis, M. Trapezius, M. Deltoideus, M. Gluteus maximus, M. Latissimus dorsi, M. Tensor fasciae latae, M. Biceps femoris
Das EMS-Training kann über verschiedene Programme von EQUERY individuell angepasst werden.
Jedes Programm variiert hinsichtlich:
• Frequenz
• Kontraktionsdauer
• Ruhedauer
• Ramp-up (Aufbau bis zur Kontraktion)
• Ramp-down (Abbau nach der Kontraktion)
• Impulsbreite (Impulsdauer) (EQUERY, 2020)
Der Anzug wird mit vier elastischen Gurten um den Bauch, der Kruppe und die Hinterhand des Pferdes befestigt. Wichtig ist, dass der Anzug korrekt sitzt und die vorgesehenen Muskelgruppen optimal abdeckt. Vor Beginn der EMS-Behandlung müssen die sechs Elektroden mit (destilliertem) Wasser befeuchtet werden, um eine optimale Leitfähigkeit zu gewährleisten. Anschließend wird der Anzug samt Empfangsgerät am Pferd angebracht und befestigt.
Über die EQUERY-App kann das gewünschte Trainingsprogramm ausgewählt werden. Eine Einheit dauert in der Regel etwa eine Stunde. Nach Beendigung des Programms werden der Anzug und das Empfangsgerät entfernt. Der Anzug sollte nach jeder Nutzung zum Trocknen aufgehängt und für die nächste Anwendung vorbereitet werden.
Bild 2: Elektroden des EQUERY Anzugs (Quelle: privat)
Vorteile des EMS Trainings
1. Gezielter Aufbau der Muskulatur
Duch das EMS Training werden gezielt bestimmte Muskelgruppen aktiviert, die einen wichtigen Faktor in der Stabilität des Pferdes speilen. Durch die elektrische Stimulation können einzelne Muskelketten isoliert werden und so gezielt gestärkt werden. Das führt zum Ausgleich der Dysbalancen im Pferdekörper und fördert so eine harmonische und ausgeglichene Muskulatur. Das alles kann zu einer besseren Körperhaltung, mehr Tragkraft und einer optimierten Bewegungsqualität führen.
2. Intensität des Trainings kann selbst bestimmt werden
Ein weiterer Vorteil ist, dass das die Intensität des Trainings individuell auf den Leistungsstand des Pferdes angepasst werden kann. Basierend auf dem Trainingsziel, dem Fitnesszustand und den Bedürfnissen des Pferdes kann die Intensität der elektrischen Impulse angepasst werden. Dies kann von einem sanften Aufbautraining nach längerer Pause bis hin zu intensivem Krafttraining variieren.
3. Kontrollierte Muskelkontraktion
Durch die elektrische Stimulation werden die Muskeln gezielt und kontrolliert kontrahiert, wodurch eine effektive und gleichmäßige Muskelaktivierung sichergestellt wird. Anders als bei herkömmlichem Training, bei dem bestimmte Muskelgruppen überbeansprucht, vernachlässigt oder erst gar nicht aktiviert werden können, sorgt EMS für eine gleichmäßige und ausgeglichene Beanspruchung der Muskulatur. Dies kann dazu beitragen, Fehlbelastungen und Verspannungen vorzubeugen und neue Muskeln zu aktivieren.
4. „Muscle Memory“
Das EMS Training unterstützt das Pferde dabei sich die Muskulären Bewegungsabläufe und Aktivierungen zu merken. Das sogenannte „Muscle Memory“ kann sich den Trainingsreizen besser anpassen und die Muskulatur schneller aktivieren, da sie ja bereits durch die elektronischen Impulse aktiviert wurde. Insbesondere nach Trainingspausen und Verletzungen hilft EMS dem Körper dabei Bewegungsabläufe wiederherzustellen und bereitet die Muskulatur auf die Belastung vor.
5. Kann als Rehabilitation und Ergänzung zum Training eingesetzt werden
Diese Form von Training hilft nicht nur Pferden, die sich in der Rehabilitation befinden, da EMS gelenkschonend ist und keine Überbelastung für Sehnen oder Bänder darstellt, sondern ist auch eine ideale Ergänzung zum herkömmlichen Training. Muskelgruppen können gezielt gestärkt werden, die im Training oft nicht aktiviert werden (können).
6. Schnellere und effektivere Ergebnisse
Durch die gezielte und intensive Muskelaktivierung führt EMS-Training oft schneller und effektiver zu Ergebnissen als herkömmliches Training. Die tiefe Muskelstimulation sorgt für eine bessere Durchblutung, eine erhöhte Sauerstoffversorgung der Muskulatur und eine schnellere Regeneration. Dies kann sich positiv auf Kondition, Kraft und Leistungsfähigkeit des Pferdes auswirken und somit einen wertvollen Beitrag zur Trainingsoptimierung leisten.
Risiken des EMS Trainings
Trotz der Vorteile die das EMS Training mit sich bringt, gibt es auch hier Risiken die in Betracht gezogen werden sollten und vor der Therapie mit Fachpersonal besprochen werden sollten.
Ein wesentliches Problem stellt die inkorrekte Anwendung von EMS dar. So kann es zu unangenehmen oder sogar schmerzhaften Reaktionen des Pferdes kommen, wenn die Intensität der Impulse falsch eingestellt oder die Elektroden falsch platziert werden. Außerdem kann es bei falscher Anwendung zu unkontrollierten Muskelkontraktionen kommen, die im schlimmsten Fall zu Verspannungen oder Fehlbelastungen führen.
Ein weiteres Risiko ist die muskuläre Überlastung. Da EMS gezielt die tiefen Muskeln stimuliert, kann es zu einer Überbeanspruchung bestimmter Muskelgruppen kommen. Ohne ausreichende Pausen oder eine langsame Steigerung der Intensität besteht die Gefahr von Muskelkater, Verspannungen oder auftretenden Dysbalancen. Vor allem Pferde mit bereits bestehenden Muskelproblemen können negativ auf eine zu starke Stimulation reagieren.
Wichtig ist auch, dass EMS ein strukturiertes Training nicht ersetzen kann. Die Methode kann zwar helfen, die Muskulatur zu aktivieren, verbessert aber weder die Koordination noch die Bewegungsqualität des Pferdes, sondern wirkt nur unterstützend. Ein ganzheitliches Training, das sowohl Gymnastizierung als auch Muskelaufbau berücksichtigt, bleibt für die langfristige Gesunderhaltung des Pferdes unerlässlich.
EMS sollte daher nur als unterstützende Maßnahme und unter fachkundiger Anleitung eingesetzt werden, um Risiken zu minimieren und das Wohlbefinden des Pferdes nicht zu gefährden.
Fazit
EMS Training ist eine sinnvolle Ergänzung zum alltäglichen Training, die einige Vorteile mit sich bringt. Zum einen die Unterstützung des Muskelaufbaus oder zur Rehabilitation nach Verletzungen. Allerdings sollte sie nicht als Wundermittel angesehen werden. Ohne eine korrekte und beaufsichtigte Anwendung kann EMS mehr Schaden als Nutzen bringen, insbesondere durch unkontrollierte Muskelkontraktionen wie zum Beispiel die Falsche Wahl des jeweiligen Programms oder Überbelastungen. Zudem ersetzt diese Methode kein gezieltes, gut durchdachtes Training, das für die langfristige Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Pferdes essenziell ist.
Letztendlich kann EMS weder als eine revolutionäre Trainingsmethode noch gänzlich überflüssig eingeordnet werden – wie bei so vielem hängt ihr Nutzen maßgeblich davon ab, wie und wann sie eingesetzt wird. Wer sie verantwortungsvoll und gezielt als unterstützendes Tool nutzt, kann langfristig positive Effekte erzielen. Dennoch bleibt sie eine Ergänzung und sollte niemals das fundamentale Training oder die individuelle Betreuung des Pferdes ersetzen.
Quellen:
Atalaia, T., Prazeres, J., Abrantes, J., & Clayton, H. M. (2021). Equine Rehabilitation: A Scoping Review of the Literature. Animals, 11(6), 1508. https://doi.org/10.3390/ani11061508
Nussbaum, E. L., Houghton, P., Anthony, J., Rennie, S., Shay, B. L., & Hoens, A. M. (2017). Neuromuscular Electrical Stimulation for Treatment of Muscle Impairment: Critical Review and Recommendations for Clinical Practice. Physiotherapy Canada, 69(5), 1–76. https://doi.org/10.3138/ptc.2015-88
Kirar, N., Sezer, S., Pinarbaşi, A., Okcuoğlu, İ., Durgun, Ö., & Yaman, Ş. (2023). Physical Therapy and Application Methods in Horses .
McNeal, D. R., & Reswick, J. B. (1976). Control of Skeletal Muscle by Electrical Stimulation. Advances in Biomedical Engineering, 6, 209–256.
https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/B9780120049066500105
Equery (2020).Home. https://equery.be/en/home/
Fotos:
Bild 1 (Header): https://equery.de/en/home/
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